Der Kino-Poet Horst-Dieter Sihler ist nicht mehr.

Horst Dieter Sihler zur Mondlandung · Chris Haderer: „Film ist das Gesamtkunstwerk unserer Zeit“

Horst-Dieter Sihler, kurz HDS genannt, wurde am 15.9. 1938 in Klagenfurt/Celovec geboren. Er wuchs auf einem Bauernhof am Rand der Stadt auf, den es heute nicht mehr gibt, weil er dem Autobahnkreuz Klagenfurt-Nord im Weg stand. Sihlers Vater starb beim ersten Bombenangriff auf Klagenfurt/Celovec. Obwohl er schon in der Schule Gedichte schrieb, wurde er zunächst Maschinenbau-Ingenieur und entwarf Bauteile für Atomreaktoren. In Graz stieß er auf das Forum Stadtpark und wurde Freiberufler – „Ohne soziale Absicherung, bis heute“, wie er betont. Zunächst schrieb er Theaterkritiken, dann wandte er sich dem Film zu und wurde Spezialist für das osteuropäische Kino. Er schrieb unter anderem für „Neue Zeit“, die „Kleine Zeitung“ und die „FAZ.“ Mit schwankendem Erfolg bemühte er sich um den Aufbau einer österreichischen Programmkino-Szene. 1977 initiierte er die ersten österreichischen Filmtage in Velden, aus denen über die Jahre das „Diagonale“-Filmfestival wurde. Nach einer schweren Hepatitis-Erkrankung, die seine Aktivitäten stoppte, hat er seit 2016 fünf Bücher geschrieben. In den enthaltenen Zeitzeugen-Geschichten (Lyrik, Prosa, Essays) arbeitet er 60 Jahre Kultur- und Filmgeschichte auf.

 

Bücher von Horst-Dieter Sihler

Das Buch haus im sommer war die Grundlage für den Kurzfilm Bilder einer verlorenen Landschaft von Chris Haderer, der 2021 beim K3-Festival in Villach uraufgeführt wurde.

Diverse Lesungen und Interviews sind hier zu finden.

Nun hat HDS am Sonntag, den 30. Oktober 2023 seine lange Reise angetreten.

So reist er mit seiner Poesie. Zwei – aus 1965 und 2020 sind mit ihm.

 

Am Anfang war die Poesie!

Keiner meiner Tage dauert

länger als ein Morgen
hinter Horizonten lauert
geisterhaft mein Ziel verborgen

Keiner meiner Tage dauert
länger als ein Abend
hinter Stundentälern kauert
meine Uhr, Sekunden labend

Keiner meiner Tage dauert
länger als die Nacht
breit im Raume festgemauert
sitzt mein Tod und lacht
(1965)

 

Gegenwärtiges

Ich lebe in der Gegenwart
diese Gegenwart ist die Vergangenheit
die (m)ich endlich einholen kann
die Zukunft ist weit voraus
uneinholbar und
undenkbar

Aus: Wie aus einem Film. Bausteine eines Kulturlebens. Miniaturen 1960-2020 (2022, Wieser-Verlag, Klagenfurt/Celovec)

 

Stimmen zu HDS

Engelbert Obernosterer zu HDS, 2021

Lieber hds,

habe gelesen und gestaunt. Das nenne ich eine Biographie, liest sich wie ein Krimi. Gratuliere: Engelbert

 

Ilse Gerhard zu „haus im sommer“, 2020

Vergangenes Sommerglück.

Vom Corona-Trubel überrollt erblickte in diesem Frühjahr „haus im sommer“ das Licht der Klagenfurter Bücherwelt. Der wahrscheinlich schönste und sensibelste Bild-und Lyrikband dieses Jahres, verfasst von Horst Dieter Sihler und verlegt vom Wieser-Verlag, ist eine wunderbare Symbiose von lyrischer Tristesse und zu Bild gewordener Poesie. Horst Dieter Sihler trauert mit seiner „Klagenfurter Vorstadtpoesie“ einer dem Verkehr geopferten Landschaft nach. Hier fließt die Quelle seiner Jugenderinnerungen, hier schoben die Bulldozer das alte Familiendomizil beiseite, um der Autobahn Platz zu machen. „Rauch aus fremden Händen, mein verbranntes Gesicht treibt über der Landschaft…“ Sihlers Lyrik baut das einfache Haus der Vergangenheit wieder auf. Unterstützt von seltsam entrückten Landschaftsfotos und Familienbildern aus Sihlers Privatalben vermitteln Wehmut und Trauer. Der Autor heute: „Es waren poetische Vorahnungen von der Vergänglichkeit einer Landschaft, einer Lebensart, in Worten und in Bildern. Heute gibt es diese Landschaft nicht mehr. Heute befindet sich dort, in der Nähe von Schloss Mageregg, am Rande der Stadt Klagenfurt, wo unser kleiner Bauernhof gestanden war, das Autobahnkreuz Klagenfurt-Nord“. – Dem Wieser-Verlag ist mit diesem Buch und einer Geschichte über wenige Quadratmeter eine bestechende Allgemeingültigkeit gelungen. Denn dieses vergangene Sommerglück Horst Dieter Sihlers könnte auch anderswo zerstört worden sein. Allzeit und überall. Nicht nur in Lendorf.

 

Jozej Strutz schreibt zum 80. Geburtstag von HDS in der Brücke

„Der Kinoflüsterer. Seit den 1970er Jahren ist der Name H. D. Sihler untrennbar mit dem Klagenfurter „Alternativkino“ und dem „LendhafenkiNO“ verbunden. Am 15. September feiert der Klagenfurter, bzw. Lendorfer seinen 80er.

1971, Samstagnachmittag. Aus dem Radio ertönt eine sonore Stimme und kündigt das Filmprogramm für die folgende Woche an, wobei ein, zwei Filme näher beleuchtet, diskursiv besprochen, zerpflückt und eingeordnet werden: Jim Jarmusch, Bergmann, Pasolini, Jean-Luc Godard, Claude Chabrol, A. Wajda … inzwischen teilweise im Buch „Mein Kino des 20. Jahrhunderts“ (Wieser) dokumentiert. Zweifellos gab es damals neben Humbert Fink keinen anderen Kärntner Intellektuellen, der die Jugend nachhaltiger beeinflusst hätte als gerade H.D. Sihler, den man dann auch als Lehrbeauftragten an die Uni Klagenfurt berief. Er verkörperte den Kino-Flüsterer Österreichs, eloquent und leidenschaftlich, mit den großen europäischen Regisseuren in freundschaftlichem Kontakt stehend.“

 

Lieber HDS, reise gut!

Die Erinnerung an dich lebt mit und in uns weiter!

 

Lojze Wieser, Chris Haderer, Erika Hornbogner
Založba-Wieser-Verlag, Založba-Drava-Verlag, Klagenfurt/Celovec
lunaSteam.com

Klagenfurt/Celovec und Wien, am 3.11.2023

 

Horst Dieter Sihler zur Mondlandung

Von: Horst Dieter Sihler
Date: Mo., 15. Juli 2019 um 09:57 Uhr
Subject: wie hds die mondlandung vor 50 jahren erlebte
To:

hallo freunde
alles ist jetzt voll
mit texten und bildern über die mondlandung
vielleicht habt ihr interesse daran zu lesen was ich –
als „augenzeuge“ – schon vor 50 jahren in der KTZ
(Kärntner Tageszeitung)
darüber geschrieben habe – über den NASA-film FOOTPRINTS ON THE MOON – Apollo 11
der nach fünf monaten im dezember 1969 in den kammerlichtspielen klagenfurt anlief
endlich strahlende farbbilder aus einer filmkamera statt der grauverschwommenen tv-bilder
alles begann in jener nacht im juli 1969 als wir bis nachts um vier vor dem fernseher ausharrten
zusammen mit der halben welt – um neil armstrong auf dem mond herumhüpfen zusehen …

mein freund und filmemacher chris haderer
der schon einige meiner lesungen aufgenommen hat
hat mit mir über diesen mondlandungs-text einen kleinen film gemacht
zu sehen auf OKTO am dienstag den 16.juli – 20.05 im Kabel bei Magenta und A1
und nachzulesen im buch MEIN KINO DES 20.JAHRHUNDERTS (bei Wieser)
lg hds

ps – der erweiterte text
erschien shon vor zehn jahren in der „BRÜCKE“
zum 40-jahr-jubiläum der mondlandung

moon landing

nicht unten
und nicht oben

einfach da draußen
gleißend
in der tiefsten schwärze des alls

und schwerelos
wie der mensch im mutterschiff
auf seinem langen weg
zum mond

houston: tranquility base here
the eagle has landed

leichtfüßig
der erste fußabdruck
des menschen
auf einem fremden himmelskörper

am horizont
des kalten trabanten
kraterübersät und steinig
geht langsam die erde auf
in ihrer ganzen blauweißgrünen pracht
größer als der mond zuhause
cinema veritè par excellence
kein kino diesmal

one small step for a man
one giant leap for mankind

wer denkt da noch an vietnam

der erste blick des menschen
auf seinen heimatplaneten
aus astronomischer entfernung
ist entlarvend schön

so werden uns die aliens einst sehen
wenn es die erde dann noch gibt
und die bewohner
sie nicht selbst
vernichtet
haben

(nach dem NASA-Dokumentar-Farbfilm Footprints on the Moon – USA 1969)

Moon landing

Warum habe ich dieses Film-Gedicht geschrieben, schreiben müssen, wenn auch erst fast vierzig Jahre danach…?

Ich wurde gewisse Bilder einfach nicht mehr los und versuchte, sie durch ein Gedicht loszuwerden, aber es ging nicht, sie kehrten nur  zu mir zurück, stärker als zuvor. Und die Frage ihrer emotionalen Bedeutung damals und ihrer Bedeutung heute ist  – zumindest für mich  – noch immer nicht geklärt. Ich hatte Angst, die Bilder durch ihre Beschwörung zu zerstören, aber diese Angst erwies sich als unbegründet.

Ein anderes Gedicht, das ich „evolution“ nannte, beginnt mit den Worten:

der anfang ist gemacht
der erste atomare pilz
ist kaum verglüht
schon greift man zu den sternen

die halbwertzeit des menschen
ist noch unbekannt
und niemand weiß
ob das nur zufall war…

eine erste Stufe auf der Treppe der Evolution, die wohin führen wird?

Es begann in jener Nacht im Juli 1969, als ich bis nachts um vier vor dem Fernseher ausharrte, zusammen mit der halben Welt, um Neil Armstrong auf dem Mond herumhüpfen zu sehen. Der Ausgangspunkt waren graue  Fernsehbilder, grau und grobkörnig und verschwommen. Die Übertragung der Signale durch die Bodenstationen auf der Erde brachten erhebliche Qualitätseinbußen mit sich. Später wurden sie dann durch  strahlende Farbbilder im Kino abgelöst: der erste Blick eines Menschen aus dem Weltall auf das Raumschiff Erde und seinem Satelliten, den Mond.

Die Technik noch mangelhaft, der Eindruck gewaltig. Als Filmfan suchte ich schon damals die neuen Bilder, die die neuen Techniken mit sich brachten.

Stanley Kubrick dachte so ähnlich und praktizierte es auch. „2001: A Space Odyssey“ lief zur selben Zeit in den Kinos. Wir erlebten zum ersten Mal das Sterben eines Computers, sahen zu, wie ihm das Gedächtnis rausgeschraubt wurde, weil die „böse“ Intelligenz anfing, die Crew zu vernichten, den „menschlichen Störfaktor“ in ihrer Planerfüllung. Wie gewaltig dieser HAL noch war, wieviel Platz er beanspruchte? Auch ein Kubrick konnte sich damals noch nicht vorstellen, daß es die Nanotechnik geben könnte, Mikrochips, oder so etwas wie den Laptop, auf dem ich diesen Text hier schreibe. Oder zumindest nicht so bald.

Das Verhältnis von Science-Fiction-Autoren zur Zeit ist immer auf eine merkwürdige Art gestört. Utopische Filme, die in unserer Gegenwart spielen sollen, wirken heute auf seltsame Weise rührend antiquiert. Die Zukunft bleibt undurchschaubar, ein Geheimnis.

Ich sehe aber auch Kubricks Star-Child vor mir, den wiedergeborenen Menschen, der in seiner Embryo-Blase mit großen Augen im Weltraum schwebt, am Neubeginn von Raum und Zeit. Hier beginnen sich die Visionen des Künstlers mit dem zu decken, was die Bilder der Mondfähre versprachen.

Ich weiß nicht, ob ich Kubricks Bilder vor der Mondlandung gesehen habe. Sie traten schnell in den Hintergrund, als nur wenige Monate nach der Mondlandung der NASA-Dokumentarfilm „Footprints on the Moon – Apollo 11“  (Die Landung auf dem Mond) bei uns anlief. Das waren keine grauen TV-Bilder mehr, sondern klare Farbbilder aus einer Filmkamera, aufgenommen von der Mondfähre.

Notizen in meinem Filmtagebuch, Dezember 1969 (veröffentlicht in der „Kärntner Tageszeitung“):

„Später, in 20.ooo km Entfernung, hängt die Erde dann groß und majestätisch im Raum und sie ist tatsächlich so, wie sie die SF-Illustratoren immer gezeichnet haben: braun und grün die Kontinente, weiß die Wolken und blau die Ozeane“.

(Mit zwei Klicks schalte ich jetzt Google-Earth ein, stoppe den Globus auf 2o.ooo km Sichthöhe und vergleiche. Ja, das Bild ist ähnlich, aber wirkt künstlicher, virtuell gesäubert. Unser Planet ist wolkenfrei und ohne Atmosphäre, dafür sieht man den Atlantikgraben in seiner vollen Länge.)

„Plötzlich ist der Mond da, klar und ruhig zieht er vorbei, nicht unten und nicht oben, sondern einfach draußen, einmal links unten, einmal rechts oben sich aus dem Bild drehend, je nachdem, welche Schwenkung das Raumschiff vollzieht. Die ganze Landephase bis zum Aufsetzen wird in einer einzigen Einstellung gezeigt, ebenso der umgekehrte Vorgang beim Start. Diese Bilder sind überwältigend. Etwas Elementar-Neues: das erste optisch-räumliche Erlebnis des Weltalls, die erste sinnlich-visuelle Erfahrung eines fremden Himmelskörpers und außerirdischer Geschwindigkeiten.

Die faszinierendsten Einstellungen aber sind jene langen aus dem Mutterschiff, das den Mond umkreist, während sich von unten, aus dieser wahrlich utopisch anmutenden Mondlandschaft riesiger grünlicher Krater, ein leuchtendes Pünktchen nähert, größer wird, sich als aufsteigendes Mondlandefahrzeug entpuppt, präzise Korrekturbewegungen vollzieht und schließlich ankoppelt: die Mondbesucher sind an Bord zurückgekehrt! Das alles vor der grandiosen Kulisse der in der Tiefe vorbeirollenden Mondkugel, hinter deren Horizont langsam die Erde aufgeht“.

Das übertrifft Kubrick bei weitem. Menschliches, ästhetisches Wollen bleibt hier gänzlich ausgeschaltet.

Vor kurzem hatte ich einen seltsamen Traum: Ich sah auf eine apokalyptische Welt nach der Katastrophe, übersät von Industriemüll und Ruinen… am Ende schwebte ich über einem zerstörten Autobahnkreuz und mußte zusehen, wie an einem kaputten Zubringer Lastwagen voll mit alten Filmen in die Tiefe gestoßen wurden. Das schockierte mich fast mehr als die Bücherverbrennungen der Nazis… und ich wachte auf. (Ich werde ein Gedicht darüber schreiben müssen…!)

Hängt das damit zusammen, daß Presse und Fernsehen seit Wochen voll sind mit Reflexionen aller Art über das Jahr 1968, vierzig Jahre danach? Hier tauchte neues, nie vorher gesehenes Bildmaterial auf, während anderswo altes verschwindet…

1968 und die Folgen! War die Mondlandung auch eine Folge davon? Nein, dazu mußte sie zu lange vorbereitet werden und zu oft mißglückte sie. Aber sie war eine Seite davon. Die Seite, die an den technischen Fortschritt glaubte und die Folgen nicht bedachte.

Die andere Seite war dieses unerwartete, verblüffende Erweckungserlebnis der Weltjugend zwischen San Franzisko und Tokyo, oder – auf Europa bezogen – zwischen Paris und Prag,  an deren Folgen sie auch nicht dachte.

Fehlentwicklungen im kalten Krieg waren hier wie dort die Voraussetzung, wie zum Beispiel der Vietnamkrieg, den der Westen angezettelt hatte und einer der Auslöser für die Freiheitsbestrebungen der Jugend war, ob in Ost oder West. Che Guevara wurde eine Ikone dafür, Neil Armstrongs gerippter Fußabdruck im Mondstaub eine andere.

Aber damals wie heute stürzte man sich lieber auf die radikalen Randerscheinungen, den Terror von einst und jetzt, und läßt alle Formen des gewaltlosen Widerstands gegen überalterte Strukturen, die die Welt  vor 68 dominierten, außer acht. Heute überwiegen nur zwei Formen der Reflexionen über 68: die nostalgische Verklärung oder die üble Nachrede.

So gesehen war die Mondlandung die ideale Ablenkung von dem, was Amerika gerade in Vietnam anrichtete. Aber Vietnam konnte es nicht mehr erobern, den Mond schon und das Weltall dahinter. So wurde aus der horse opera des Westerns im Handumdrehen eine space opera, bzw.  erst der Prolog zum ersten Akt der Eroberung des Universums. Heute , 40 Jahre danach, versucht man diesen ersten Akt anzugehen, mit der Ankündigung, auf dem Mars landen zu wollen, 2o3o etwa. Daß es viel vernünftiger wäre, – und auch viel billiger, dafür die Entwicklung der Robotertechnik voranzutreiben, und den Menschen als in jeder Hinsicht verwundbarere und teurere Fracht vorerst auszuklammern, wird beiseite geschoben.

Die Mondlandung gehörte damals zum gewaltlosen Widerstand gegen alle reaktionären, technikfeindlichen Bestrebungen. Sie war die Revolution des Establishments. Und auch sie mußte schief gehen. Die letzte Mondlandung fand 1972, nur drei Jahre nach der ersten statt. Dann wurden die bemannten Mondflüge eingestellt. Der Zeitfaktor ist auch für Wissenschaftler eine Größe, die sie nicht exakt einschätzen können.

Aber die Bilder verfolgen mich noch heute. Meine Suche nach „Footprints…“, dem ersten Mondlandungsfilm der NASA, blieb erfolglos. Schon überlegte ich, mich direkt an die Quelle zu wenden, da kam eine erschütternde Meldung: die NASA wollte endlich die Originalbänder mittels modernster Technik qualitativ aufbereiten, aber sie waren unauffindbar. Jemand hatte gewaltig geschlampt! Aber die NASA sah keine Verfehlung von ihrer Seite. Die Archivierung der Bänder hätte während der Apollo-Ära einfach „niedrigere Priorität“ gehabt, so ihre Presseaussendung.  Daß die NASA über kein sicheres Archiv verfügt: diese Idee wäre mir nie in den Sinn gekommen.

Also suche ich weiter nach den Bildern, die einen Quantensprung für unser  Sehen, Fühlen und Denken bedeuteten. Es gibt unzählige Filme mit Kompilationsmaterial, wie der Bilderramsch auf YouTube und im Internet, hektisch und lieblos geschnittene Filme. Grandiose Schnipsel sozusagen, zerschnittene Bilder. Und ich habe nur zwei mit hohem künstlerischem Wert gefunden. Aber das ist lange her.

Amos Vogel erwähnt in seinem Kultbuch „Film as a Subversive Art“, (London 1974) den Film „Moonwalk N0. 1“ (USA 1971) als den „wohl einzigen Film, der die philosophischen und poetischen Dimensionen eines Ereignisses anzutippen vermag, das stereotyp als reiner Triumph der Technologie dargestellt wurde“. Und 1978 sah ich beim Science-Fiction-Filmfestival in Triest den Film „Spaceborn“ von der Berkeley-Universität. Eine berauschend schöne Montage von Weltraumbildern, die eindringlich bewies, daß alle SF-Filme bisher bestenfalls nur eine winzige Ahnung von außerirdischen Perspektiven vermittelten. Was abstrakte Begriffe wie Schwerelosigkeit oder die Unendlichkeit von Raum und Zeit sinnlich bedeuten, konnten bisher nur einige Astronauten konkret erfahren.  Aufgrund ihrer Filmaufnahmen konnten wir es nun nachvollziehen. Dies hatte allerding wenig mit SF zu tun, eher mit dem alten und immer noch wunderbaren und hier mehr denn je phantastischen Medium Film. „Spaceborn“ demonstrierte – wieder einmal – den Sieg des Dokumentarischen über die Fiktion.

Horst Dieter Sihler

„Film ist das Gesamtkunstwerk unserer Zeit“ – Der Kärntner Kino-Poet Horst Dieter Sihler

Chris Haderer

Die Abkürzung seines Namens ist fast schon ein Markenzeichen. Seine Briefe und Emails zeichnet Horst Dieter Sihler mit dem Kürzel HDS. Insgesamt fünf Bücher hat Sihler in den vergangenen Jahren geschrieben, die trotz ihrer unterschiedlichen Themen eines gemeinsam haben: sie setzen sich, ein bißchen gratwandernd, mit „Kultur“ auseinander. Sihler hat die österreichische Kino- und Kulturgeschichte seit den 1960er-Jahren miterlebt, protokolliert und zum Teil auch mitgestaltet. Er gehörte zu den Vorreitern einer heimischen Programmkino-Szene und er war Initiator der „ersten österreichischen Filmtage“ in Velden im Jahr 1977 – aus denen über die Jahrzehnte das Grazer „Diagonale“-Filmfestival wurde.

Irgendwie war auch der Lebensweg von Horst Dieter Sihler eine Art Kino; „großes“ Kino, eine Achterbahnfahrt der Erinnerungen: es gibt kaum einen Namen aus der alpenländischen Kultur- und Kunstgeschichte nach 1950, zu dem ihm nicht eine Begebenheit einfällt. Er war beim Forum Stadtpark in Graz dabei, als es noch frech und provokant war; als Wolfgang Bauer für den verstorbenen Filmemacher Ferry Radax aus dem Fenster des Rathauses rotzte; als Alfred Kolleritsch den jungen Sihler zur Literatur animierte und bevor der dann der Literatur ein bißchen den Rücken kehrte und zum Kino-Poeten wurde. „Im Hinterkopf entstand die Idee, so etwas wie ein populärwissenschaftlicher Journalist werden zu wollen“, erinnert sich Sihler. „Die, die es wirklich wurden, bewundere ich bis heute. Auf eine andere Art bin ich dann doch einer geworden, nur nicht auf technischem Gebiet, sondern auf kulturellem.“

Eine seltene Form des Hepatitis stoppte um die Jahrtausendwende Horst-Dieter Sihlers Aktivitäten – als Kritiker und als Programmkino-Organisator. „Mit 60 fiel ich einfach um und wachte Monate später erst langsam wieder auf“, reflektiert die Erfahrung, fast zu sterben. „Dazwischen lag eine bewusstlose Zeit. Ich war nicht bewusstlos, sondern einfach ohne Bewusstsein. Ich war in einem schwarzen Loch gefangen gewesen, so nannte ich das später. Ich war gestorben, so empfand ich es persönlich, als ich allmählich wieder aufwachte und mich wie auf einem fremden Planeten, wie in einem fremden Leben, neu einrichten und neu orientieren musste und alles um mich herum neu entdecken. Im Übrigen macht jeder von uns täglich diese Erfahrung. Wir schlafen alle abends ein und wachen morgens wieder auf. Auch der Tod ist nur ein Schlaf. Nur eben ein Schlaf ohne Erwachen.“

Horst Dieter Sihler lebte in einer kleinen Wohnung in der Radetzkystraße in Klagenfurt. Die Wohnung erinnert ein bißchen an ein Archiv: hunderte Bücher fangen den Blick ein, zu allen nur denkbaren Themen, vor allem aber: Kino. Vom Balkon aus sieht man das Kreuzbergl, auf dem sich Ingrid Bergmann und Omar Sharif im Mai 1964 für die MGM-Produktion „Der gelbe Rolls-Royce“ von Regisseur Anthony Asquith die Ehre gaben. Gegenüber ist eine Trafik, in der Michael Haneke einige Szenen für seinen ersten TV-Film „Drei Wege zum See“ drehte, im Jahr 1976, nach der gleichnamigen Erzählung von Ingeborg Bachmann. Unter dem Balkon ist der Gastgarten eines Feinkostladens mit angeschlossenem Café – dort feierte Sihler gerne Geburtstag. Zu seinem 80er kam auch Landeshauptmann Peter Kaiser vorbei. Der elterliche Bauernhof im Norden von Klagenfurt, nahe dem Schloss Magaregg und der Khevenhüller Kaserne, ist schon lange Geschichte: jetzt sind dort das Autobahndrehkreuz Klagenfurt Nord und ein Übungsplatz des Österreichischen Bundesheeres, auf dem nicht scharf geschossen werden darf, wegen der zivilen Umgebung. Die Gegend wird von der durch Bäume getarnten A2 dominiert. In seinem Buch „Haus im Sommer. Klagenfurter Vorstadtpoesie“ hat Sihler über den Verlust seiner Kindheit geschrieben. Horst-Dieter Sihlers Vater kam im Jahr 1944 beim ersten Bombenangriff auf Klagenfurt ums Leben. Es ist eine von vielen Erfahrungen, die Sihler im Laufe der Jahre zu Texten verarbeitete.

Nach der Schule hatte Horst-Dieter Sihler allerdings noch einen etwas anderen Karriereweg im Sinn als den, der es letztlich wurde. „Weil der Bub gut rechnen konnte“, so erinnerte er sich, schickte ihn seine Mutter auf die HTL, wo er, weil es in diesem Zweig gerade zu wenig Schüler gab, zum Maschinenbau-Ingenieur ausgebildet wurde. Bevor er zum Filmkritiker, Kinomacher, Autor und Poeten konvertierte, arbeitete er einige Jahre lang bei der Kernreaktor-GmbH Karlsruhe an der Entwicklung von Atomreaktoren mit.

Der Weg zum Kinopoeten führte Sihler von Klagenfurt zunächst nach Wien und ins Cafe Hawelka, wo er nicht zuletzt auch den Science-Fiction Heftromanhelden „Perry Rhodan“ kennenlernte, und dann zu Wagner-Biro nach Graz. Bis zum Erstkontakt mit dem Forum Stadtpark war es nur eine Frage der Zeit. Daß sich Horst-Dieter Sihler für das Theater interessierte, liegt vielleicht nicht zuletzt daran, daß er – auf einer seiner vielen frühen Paris-Reisen „schlagartig das Geheimnis des Theaters begriff“, erinnert er sich. „Der leere Raum und der Mensch. Alles andere ist eigentlich überflüssig. Die hohe Kunst der Stille, wie schon bei Charles Chaplin.“

Noch während seiner Zeit beim Grazer Forum Stadtpark, begann Horst-Dieter Sihlers Interesse für den Film zu wachsen – als eine „neue“ Kulturtechnik mit weitreichender Bedeutung, fast eine Art „Metakunst“, die alles in sich vereinigt.

Die „ersten österreichischen Filmtage“, die im Herbst 1977 veranstaltet wurden, war als Filmfestival nach internationalem Vorbild geplant und sollten nicht nur eine Werkschau des österreichischen Filmes sein sondern vor allem eine Begegnungszone zwischen Filmschaffenden, Kritikern und dem Publikum – und auch ein gemeinsames Sprachrohr um Forderungen an die Politik zu stellen. Es geschah erstaunliches in diesem kleinen Lande“, erinnert sich Horst-Dieter Sihler. „Es entstanden, fast parallel, zwei Kulturfestivals, die bis heute überregionalen Charakter haben. Humbert Fink organisierte in Klagenfurt den ersten Bachmann-Lese-Wettbewerb, den Gert Jonke gewann, und ich gründete in Velden die ersten Österreichischen Filmtage, die sich dann zur Diagonale entwickelten, mit Axel Corti als Ehrengast und dem jungen Christoph Waltz in seinem ersten Film.“

Die Filmtage sind nach einer langen Wanderung von Velden über Kapfenberg und Wels schließlich in Granz gelandet, als die speziell dem österreichischen Kino gewidmete Diagonale. An der Wichtigkeit heimischer Filmfestivals hat sich – trotz einer gewachsenen Landschaft, die vom „großen Kino“ über den Experimentalfilm bis zum Kurzfilm jedes Genre abdeckt – allerdings nichts geändert. Für Horst-Dieter Sihler sind sie nach wie vor ein Platz der Begegnung und der Selbstreflexion. Seine Tätigkeit als Geschäftsführer der Aktion „Der gute Film“ gab Sihler gewisse Freiheiten bei der Filmplanung, sodass er – als Vorreiter der Programmkino-Szene, auch Filme nach Österreich holen konnte, die auf internationalen Festivals gelaufen waren.

„Wie aus einem Film“ heißt Horst-Dieter Sihlers jüngstes Buch fast schon pflichtgemäß. Es ist kein weiteres Buch über das Kino, obwohl im Kopf sehr wohl die Bilder laufen, sondern Miniaturen aus den Jahren 1960 bis 2020. „Bausteine eines Kulturlebens“ ist nicht nur der Untertitel, sondern auch gleichzeitig die Kurzzusammenfassung des Inhalts. „Bis ins erste Corona-Jahr hinein, das auch mich einschränkte und behinderte“, beschreibt Sihler die Buch-Werdung, „entstanden zahlreiche Minitaturen, kulturkritische Erinnerungs-Splitter und auch einige Fundstücke fanden sich, die aus meinem nicht vorhandenen Archiv auftauchten, die gut dazu passten.“

Neben vielen anderen fällt in Horst-Dieter Sihlers Biografie oft der Name Peter Handke. Der besuchte Sihler gelegentlich in Kärnten, als es statt der Autobahn noch den Bauernhof bei Magaregg gab. Einmal, so erinnert sich Sihler, brachte Handke das Manuskript seines ersten Romanes „Die Hornissen“ mit und wollte seine Meinung hören. Auch im Kino waren sie zusammen, im Western „The Hanging Tree“ mit Gary Cooper und Maria Schell – was Peter Handke zu seinem Text „Der Galgenbaum“ veranlasste. Auch das ist zu einer Miniatur geworden, die wie ein kleiner Zeitzeuge auf die letzten 60 Jahre zurückschaut.