Ein Vierteljahrhundert kaum liegt die Rückkehr des Krieges nach Europa hinter uns. Aus heutiger Sicht, meine ich, war der Zerfall Jugoslawiens die Ouvertüre zu einem Stück politischen Versagens. Der Verfall errungener Grundsätze kultureller und zivilisatorischer Gemeinsamkeiten ist weit vorangeschritten. Wir waren auf dem Weg, die uns umgebenden Kulturen und Literaturen durch Übertragungen zu begreifen Bei der Frage, wie der Weg in eine Kulturen und Sprachen begreifende, möglicherweise friedlichere und gerechtere wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft aussehen könnte, befi nden wir uns heute im Übergang von der Reibung zur Konfrontation, Kultur und Literatur werden zur Seite geschoben, Zwängen und Ängste treten an ihre Stelle.

Literatur bietet keine Rezepte. Was sie aber, neben vielem, was noch in ihr schlummert, leisten kann, ist, sprachlich, in Bildern, mögliche Denk- und Sichtweisen anbieten, in Frage zu stellen, Gewohntes und Irrtümer zu unterlaufen, sie bloßzustellen, Bruchstellen sichtbar zu machen, verschüttetes Wissen zu heben und/oder neu lesbar zu machen, Wissen erfahrbar und aus Fremdem Eigenes werden zu lassen. Einfach Europa erlesen – füge ich an!

Es wird uns nicht erspart bleiben, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum es eine jahrhundertealte Tradition der europäischen Wirklichkeit gibt, die auf den Knochen der „antemuralen Völker“, wie es Miroslav Krleža vor mehr als einem halben Jahrhundert formulierte, ihren Reichtum baut und genauso lange bestrebt ist, diese vor den Toren des angeeigneten Reichtums zu halten. Dass es jetzt, auch reichlich spät, aber immerhin, eine Welle der Betroff enheit und Hilfsbereitschaft gegeben hat, ist ein ermunterndes Signal eines erwachenden Bewusstseins und könnte einen Hinweis in sich bergen, dass das vielgepriesene demokratische Prinzip doch tiefere Wurzeln geschlagen und sich weiterentwickelt hat. Aber, wie man sieht, hat die Gegenreaktion nicht lange auf sich warten lassen – vom Durchwinken bis zum Festungsbau verging nur eine gar kurze Zeitspanne. Lösen wird diese Verschärfung nichts, sie wird aber wahrscheinlich die Widersprüche in der Gesellschaft sichtbarer machen und zur Notwendigkeit führen, sich über eine neue Weltwirtschaftsordnung Gedanken zu machen, die hilft, die brutalen Lebensbedingungen vieler auf der ganzen Welt zu beseitigen und somit die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen.

Sind nicht Bücher, Literaten, Übersetzer, Autorinnen, Übersetzerinnen per se Schlepper, Fluchthelfer, Migranten, Exilanten, waren sie nicht immer wieder auf der Flucht und haben doch, immer wieder, durch ihr Fragen, ihr Beschreiben und ihr Ezählen, die eigenen, aber auch die gesellschaftlichen Katastrophen abgewendet?

Ihr

Lojze Wieser

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