und andere Nacherzählungen
ca. 200 Seiten, gebunden, Lesebändchen
EUR 21,00 / sfr 30,50

Menschen leben meist nicht nur ihr kleines individuelles Leben, sondern setzen sich in Beziehung zu irgendwelchen ihnen bekannt gewordenen Archetypen, Gestalten aus Historien oder Sagenwelten oder auch nur Prominenz und Pseudoprominenz aus Fernseh-News und Seitenblicken … und kopieren sie nach bestem Vermögen. Das sind manchmal heroische Entwürfe, manchmal nur Parodien, gewollte oder ungewollte: Paraphrasen sind es immer.

Srinagar ist eine Stadt in Kaschmir, wo nach dem Glauben einer islamischen Sekte Jesus, der ja als einer ihrer Propheten gilt, begraben ist. Also nicht, wie fälschlich berichtet, am Kreuz gestorben, sondern aus dem Grab in Jerusalem, das ja später tatsächlich leer gefunden worden ist, nach Srinagar entkommen und nach langer fruchtbarer Lehrtätigkeit in einer noch heute zu besichtigenden Gruft bestattet wurde. Historie? Oder eine der zahllosen „Nacherzählungen“, mit denen wir Menschen unser Leben meist nach irgendwelchen Archetypen, nach überlieferten Mythen und Märchen oder gar nur nach den flimmernden Bildern irgendwelcher Fernsehshows nachzuleben versuchen?

An einem vielfach verästelten Flusslauf und kleinen in sich selbst mündenden Kanälen gelegen, ist Srinagar eine Stadt mit meist hölzernen schmalen Häusern, drei bis vier Stockwerke hoch, versehen mit reich geschnitzten Lauben und malerisch schwankenden Balkonen. Die Straßen sind eng und vollgepackt mit zur Schau gestellten Tüchern und Teppichen, mit Körben und Säcken voll Gemüse und Getreide, mit Pappe und Papier, mit hölzernen Werkzeugen und eisernen Stiften und Maschinen, die aussehen, als wären sie schon vor tausend Jahren gebraucht worden oder könnten vielleicht erst in tausend Jahren gebraucht werden. Früher wurde die Stadt auch Suridschanagar genannt, das heißt Sonnenstadt, denn hier erhob sich, neben zahlreichen Moscheen, bunten Hindutempeln und buddhistischen Klöstern, die Sommerresidenz des Maharadschas von Kaschmir. Aber noch früher, wissen alte Lieder und Überlieferungen, soll sich an dieser Stelle das Paradies befunden haben, die Wiege des Menschengeschlechts.

Ernst Brauner, geboren 1928 in Wien; Studium der Philosophie, Germanistik, Theaterwissenschaften; als Chefredakteur und Verlagsleiter in der Medienbranche tätig. Zuletzt bei Wieser: Struldbrugs. Eine Chronik aus den ersten Jahrzehnten des dritten Jahrtausends (2008), Die wundersame Päpstin. Ein Schelmenroman (2009), Jenseits von Sodom (2010), Die Mühlfelds (2011), O Böhmerwald! (2012).