Türken oder Armenier?
Türkisch-Armenische Beziehung

300 Seiten, englische Broschur

ISBN 978-3-85129-707-2

EUR 18,80 / sfr 33,90

Die Armenierfrage, worin die Donaumonarchie durch das Bündnis mit den Osmanen im Ersten Weltkrieg involviert war, ist eine der empfind-
lichsten europäischen Fragestellungen.
Mit der Intensivierung der Europäisierung des Osmanischen Reiches ab der Tanzimat-Epoche seit 1839 und den daraus entstehenden politischen Reformen zeichnete sich ein Wechsel in der Stellung der Armenier im Osmanischen Reich ab, Konflikte zwischen den Osmanen und ihren nicht-muslimischen Untertanen wurden zunehmend internationalisiert. Auf dem Berliner Kongress 1878 wurde daher auch die politische Neuordnung der Territorien in Ostanatolien unter der Bezeichnung »Armenierfrage« behandelt. Hierin liegt auch eine der Wurzeln der Spannungen in den türkisch-armenischen Beziehungen, die ihren Höhepunkt im Jahre 1915 mit einem Umsiedlungsgesetz erreichten. Dieses Jahr markiert eine Zäsur für die armenisch-türkischen Beziehungen und bestimmt bis heute das Verhältnis zwischen diesen beiden Völkern.

Die Geschichte der Nationen ist eine Geschichte der Konkurrenz und Eigeninteressen. Sie ist voll mit dunklen Seiten und eine Anhäufung von
nicht gern gesehenen Wahrheiten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet wird eine bestimmte Zeit der Vergangenheit entweder ignoriert oder verborgen. Weiters wird aufgrund von subjektiven Forschungen nur die eigene Seite vertreten, wodurch die wahren Sachverhalte nichtig werden: Die osmanisch-armenische Frage im Ersten Weltkrieg ist hier ein passendes Beispiel. Die große Zäsur im Verhältnis zwischen Armeniern und Osmanen, das jahrhundertlang doch weitgehend ein friedliches gewesen war, stellte die von den Osmanen/Türken als »notwendige Maßnahme«, von den Armeniern vor allem in ihrer Identitätsbildung nach dem Ersten Weltkrieg als »Völkermord« bezeichnete Umsiedlung der Armenier dar.

Das Buch stellt die Politik der osmanischen Regierung hinsichtlich der Armenierfrage im Spiegel der österreichisch-ungarischen Perspektive dar. Als neuer Gesichtspunkt der Arbeit ist hervorzuheben, dass die Betrachtung der Armenierfrage und ihre Darstellung in österreichisch-ungarischen zeitgenössischen Informationsmaterialien aus den Jahren des Ersten Weltkriegs in einen dem damaligen Zeitgeist entsprechenden politischen Kontext eingebettet und aus der ausschließlichen Betrachtung von osmanischer/türkischer oder armenischer Sichtweise her losgelöst werden soll, war doch Europa und seine Staatenwelt im Ersten Weltkrieg teils mit dem Osmanischen Reich militärisch verbündet bzw. eben dessen Gegner.

Ein besonderer Charakter der österreichisch-ungarischen Perspektive ist definitiv sein Dilemma gegenüber dem Thema: Österreicher berichteten über die Vorgangsweisen gegenüber ihren »Glaubensbrüdern«, während Österreich-Ungarn mit den Agitatoren, den Osmanen, in einer Schicksalsgemeinschaft verbündet war. Trivial ausgedrückt waren sie in dieser Angelegenheit sowohl auf der Seite der »Protagonisten« als auch der »Antagonisten« involviert,
gleichgültig, von welcher Seite man es betrachtet.

Für das Buch wurden verschiedene schriftliche Quellen benutzt, um die Stimmung des Jahres 1915 so realistisch wie möglich wiederzugeben. Neben den Primärquellen wurde auch zeitgenössische Sekundärliteratur verwendet, die im Allgemeinen bezüglich der Unterscheidung zur Quelle als Literatur betrachtet wird. Bei der gewählten Methodik soll allerdings eine Neuinterpretation der politischen und militärischen Ereignisse aus den vorhin genannten Gründen der Parteilichkeit oder Objektivität nicht im Vordergrund stehen.

Folgende Fragen stellen sich: Wie verhielten sich die österreichisch-ungarischen Informationsquellen? Welcher Art waren sie? Wer verfasste sie? Wo wurden sie verfasst? Was für einen Zugang hatte der Verfasser zur Quelle? Was war seine Lebensauffassung? Wie stand er zu dem von ihm berichteten Gegenstand? Ist es erforderlich, eine konkretere Frage zu stellen, um die sich möglicherweise fortsetzbaren Fragen zu verdeutlichen? Wer war der Berichterstatter? War er z. B. mehr ein »Christ« als ein »Verbündeter« der Osmanen?

Rezensionen & Reaktionen

Pressestimmen

Der Titel klingt, als handle es sich um ein spezielles oder gar verjährtes Thema; tatsächlich aber ist es im Zeitalter der EU-Beitritts-Debatten aktuell. Österreich-Ungarn und Deutsches Reich kannten seit 1683 keine „Türkenangst“ mehr, sondern hatten zum Ziel „die Anbahnung einer deutsch-österreichisch-ungarischen Wirtschaftsherrschaft im Orient“ (S.217). Daher war das Osmanische Reich als Bündnispartner 1914 willkommen gegen die Expansionsbestrebungen der in der Entente verbündeten Franzosen, Engländer und vor allem Russen. U. a. spielten die Erdölvorkommen auf der arabischen Halbinsel wie heute noch eine umkämpfte Rolle.

Die k. u. k. Monarchie war als Vielvölkerstaat mit strukturell ähnlichen Problemen der Minderheitenpolitik konfrontiert wie das riesige Reich des Sultans, nur waren die konfessionellen bzw. ethnischen Vorzeichen in beiden Staaten umgekehrt. Was die christlich-armenische (und griechische) Minderheit in der türkisch-arabisch- muslimischen Mehrheitsgesellschaft, das bedeutete die muslimisch-bosnische (slawische) Minderheit (seit 1878 durch Annexion) dem vorwiegend katholischen Österreich-Ungarn.

Inanc Atilgan schildert mit Rekurs auf zeitgenössische Quellen die „Hin-und-Her-Diplomatie“ Österreichs während der Massnahmen gegen die Armenier 1915. Das Osmanische Reich rechtfertigte sich damit, dass es gegen die „revolutionären und separatistischen“, d. h. mit dem Kriegsfeind Russland sympathisierenden, teilweise übergelaufenen Armenier mit Umsiedlungen vorgehen müsse, und beschuldigte die Kriegsgegner, die Armenier aufzuhetzen. Als von Massakern die Rede war, protestierte Österreich nie offiziell – im Gegensatz zum Deutschen Reich (durch den Diplomaten Johannes Lepsius!). Die „Hohe Pforte“ leugnete die Massaker nicht und erklärte sie als unkontrollierbare Aktivitäten von Kurden und anderen gegen Gewalttaten von Seiten der Armenier.

Das Buch will nicht die heute wieder diskutierte „Armenier-Frage“ klären, sondern exemplarisch für Österreich (u. a. durch Zitate aus der „Wiener Zeitung“ jenes Jahres) zeigen, dass ökonomische oder religiöse Identifikation parteilich und blind für die Wahrnehmung der Menschenrechte machte. Atilgan liefert neben seinem Hauptthema auch viel Material für die Diskussion, ob hinsichtlich des EU-Beitritts der Türkei die Verfolgung der Armenier für Argumente brauchbar sei. Ganz klar entbehren Vergleiche mit der gegen die Juden gerichteten Politik im NS-Staat jeder Grundlage (so urteilt auch Ragnar Naess in seinem Geleitwort zu Atilgans differenzierter Untersuchung).

Hedwig Wingler

 

Holocaust and Genocide Studies, 24. Jahrgang 2010, No. 2, 316-321