Aus dem Litauischen von Cornelius Hell
327 Seiten, gebunden, Vor- und Nachsatz, Lesebändchen
EUR 14,95 / sfr 27,50
Ein Schlüssel zur kommunistischen und postkommunistischen Welt abseits der großen Politik – weit über Litauen und Russland hinaus.
Eine Tote lässt ihr Leben Revue passieren, das sie aus ihrer litauischen Kleinstadt ins tiefe Russland verschlagen hat. Sie war überzeugte Kommunistin und ließ sich von ihrem litauischen Mann – einem passiven, an nicht interessierten Alkoholiker – scheiden und folgte dem Russen Anatolij in eine russischen Kleinstadt. In der Partei hatte sie es schwer mit den Männerhierachien, in der Stadt blieb sie eine Fremde, und der Mann ist jähzornig und gewalttätig und hat ihr das Gesicht verbrannt: „Ich bin Blaubarts Frau mit einem Bügeleisen verbrannten Gesicht.“
Sohn und Tochter kehren nacht Litauen zurück und erleben die ersten Jahre der Unabhängigkeit. Während sich die Tochter von den Erinnerungen an „Blaubart“, den aggresiven russischen Stiefvater, befreien kann und vor ihrem ständig betrunkenen liltauischen Vater in die Stadt flieht, studiert und Schriftstellerin wird, findet der Sohn keine Lebensperspektive. Sehr spät kommen beide in Kontakt mit ihrem Halbbruder in Russland.
Aus den Erzählungen der vier Personen entsteht nicht nur eine Familiengeschichte, sondern auch ein vielschichtiges Gemälde von Mentalitäten und Milieus, das durch seine bilderreiche Phantasie ebenso fasziniert wie durch seine Ironie. Das Leben in der Provinz und die litauische Hauptstadt Vilnius in den 1990er Jahren werden in vielen authentischen Details in Bild gerückt.
Danke, Großmutter, dass ihr mich aufgenommen habt. Danke, Papa. Danke, ihr guten Nachbarn, dass ihr es zustande gebracht habt, mich zu besichtigen wie irgendein Ferkel mit zwei Köpfen, ein Glück, dass ihr mich nicht abgetapscht und gekneift habt, denn dann hätte ich gesagt, dass ich an einer gefährlichen Krankheit leide, und wenn ihr mich berührt, werdet ihr euch anstecken, ihr werdet von roten fünfeckigen Flecken übersät sein, die schrecklich jucken. Das habe ich nicht gesagt, denn niemand hörte mir zu. Ringsum plapperten sie, und nur litauisch, nicht zu fassen, und die Schwester, auch die gab keine Ruhe, schleppte mich in den Garten und nötigte mich, auf einen Apfelbaum zu klettern – schau, von dort ist die ganze Stadt zu sehen. „Geh doch scheißen!“, sagte ich zu ihr, das waren meine ersten litauischen Worte in Mamas Heimat. Die Schwester blähte sich auf und sagte: „Du Barbar!“ und ließ mich allein zurück im Winkel des Zimmers beim Tisch, der mit Tellern voll Sülze und Wurstmagen überhäuft war, wie hinter Barrikaden, die vor dem Kannibalen aus Rostow schützen sollten.