Von Lojze Wieser

Wann wird ein Gedicht erwachsen, fragt der sorbische Dichter Kito Lorenc in seinem Vorauswort im Nachhinein. Ich frage mich, soll es denn je erwachsen werden? Sollten wir nicht lieber bestrebt sein, dass es die Mystik und das Geheimnisvolle behält, die Universalität der Sprache im Bild und im genauen Hinsehen, im Benennen von einer verschollen gehenden Sprache, von einer verschollenen Landschaft, von verschollenen Menschen, wie es Peter Handke im Bezug auf die slowenische Sprache sagt?

Beide, die slowenische und sie sorbische Sprache ähneln sich sehr, sie sind sich verwandt, nicht nur, was ihr Verschwinden angeht. Und doch leben sie im Wort, in der Sprache, in der Bitterkeit, im Zorn, in der Heiterkeit. Es ist immer ein Flackern, ein ewiges Suchen, wie der Flug des Krabat auf den Czerneboh/Cornobóh, von wo der Blick über alle Niederungen und Tiefen der menschlichen Seele hinweg schaut.

Jurij Koch, ein weiterer Großer unter den sorbischen Erzählern, sagte einmal, dass in der Sprache etwas Mystisches wohnt, denn nach allen wissenschaftlichen Erklärungen dürfe das Sorbische gar nicht mehr existieren – denken wir nur an Luthers Feststellung, der doch schon vor Jahrhunderten meinte, die Bibel in Sorbisch zu drucken, mache keinen Sinn, das Sorbische würde in hundert Jahren keiner mehr sprechen. Welch ein Irrtum!

Peter Handke erinnert im soeben bei Suhrkamp erschienenen Gedichtband (Kito Lorenc, Gedichte. Auswahl und mit einem Vorwort versehen von P.H.), dass Kito Lorenc in seinen Gedichten „die sorbische Geschichte aber auch noch anders erzählt, (…) wo das spezielle Geschichtswissen übergegangen ist in etwas Universelles, die Ahnung. Und diese Ahnung geht, gedichtweise, daß heißt: Weise des Gedichtes, wiederum über ins Bild, in die Bilder, in den Klang, in die Klänge, und wird so Gegenwart, anders als die Vergegenwärtigung selbst der lebendigsten Geschichstschreiber.“

Die Sprachen haben in sich wohl eine geheimnisvolle Triebfeder, sie gibt dem Sprecher und der Leserin, sie gibt dem Sänger und dem Vor- und Nachbetern Elan, sich durch das Dickicht der Zeitläufte zu zwängen, sich mit den Gegebenheiten kratzen. Die Sprachen mögen still und leise dahinplätschern oder versickern, auf einmal sind sie wieder da, tauchen oft, an andrer Stelle als erwartet, auf und sind meist erfrischender, als zuvor.

Der allzufrüh verstorbene serbische Dichter Zlatko Krasni (1951-2008) fragt in seiner Rede anlässlich der Verleihung des „Goldenen Schlüssels von Smedererovo“ an Kito Lorenz im Oktober 2008 „ob er, sagen wir, bestimmt Gedichte nur in der Muttersprache verfassen kann, und was heißt es, wenn einer, wie er, nicht in seiner Muttersprache erzogen wird, welche Sprache ist dann die andere Sprache, und wie sieht es aus, die Muttersprache erst später für sich zu entdecken, wie ist es, gleichzeitig in einer der kleinsten und in einer der meistentwickelten Sprachen zu schreiben, wann wendet er sich an wen, und ist er zu seinem modernen Sprachausdruck durch die Elemente der sorbischen Folklore und Mythen gekommen, oder verlief der Prozess umgekehrt“.

Oder, Peter Handke abschließend, „die dritte Beflügelung, die spüre ich Leser, die spürt das Leser-Ich, alisa das Gemein-Ich, herrührend von den sorbischen Dingen, den Tieren alldort, den Leuten allhier – den Fluren, den Fluren der Lužica. Die dritte der Ahnungen macht, dass auch das Deutsch bei Kito Lorenc sich zur Sprache des Landes, des Landes schlechthin, aufschwingt, frei wieder nach Friedrich Hölderlin, dem gemäß „die Sprache der Liebenden“Sprache des Landes“ werden und sein möge“.

Kito Lorenc bei Suhrkamp und bei Wieser:

Gedichte. Ausgewählt und mit einem Vorwort versehen von Peter Handke, Suhrkamp 2013
Nach Morau, nach Krokau. Wieser 2011
Erinnerung an eine Nacht im Freien. Wieser 2009