Gedichte
Aus dem Polnischen übersetzt von Alois Woldan
ca. 100 Seiten, gebunden, Lesebändchen
EUR 21,00

Der vorliegende Band umfasst Lyrik von Ewa Lipska aus den letzten vier Bänden der Autorin, die zwischen 2010 und 2019 erschienen sind. Dazu kommt lyrische Kurzprosa der Dichterin, die von der vor zehn Jahren früh und tragisch verstorbenen Übersetzerin Doreen Daume übertragen wurde.

WELTUNFALL

Der Weltunfall kommt. Aber noch döst
er gemächlich im Gebüsch.
Es röhren die Violoncelli verstimmter Gräser.
Schon ist der Himmel entwaffnet. Der Blitz
täuscht eine Nachttischlampe vor. Noch ist der Donner fern.

Hoffen wir, dass er an unserem Dorf vorübergeht.
Wir gehen auf ein Bier in die nächste Kneipe.
Noch ist der Mond in den Fluss geworfen.
Noch tut sich nichts.

Wir essen die Liebe auf. Spucken die Reste aus.
Blicken auf das Alteisen des Friedhofs.
Mehr oder minder verstorben. Aber mehr nicht.

Ewa Lipska wurde 1945 in Krakau geboren, wo sie Malerei studierte. Sie gehört zu den wichtigsten Stimmen in der polnischen Lyrik der zweiten Hälfte des 20. Jhds. und ist nach Wisława Szymborska wohl die wichtigste polnische Lyrikerin. Sie ist Altersgenossin der polnischen 1968er-Generation, der Nowa Fala (Neue Welle), ohne aber deren Programm und stilistische Ausrichtung zu teilen. Seit ihrem ersten Lyrikband 1967 hat sie mehr als zwei Dutzend weitere Bände veröffentlicht, dazu poetische Prosa und einen Roman. In den 1990er Jahren war Ewa Lipska für wenige Jahre Direktorin des Polnischen Instituts Wien und hat seit dieser Zeit einen besonderen Bezug zu Österreich (zwei Bände mit ihren Gedichten sind in österreichischen Verlagen 1990 und 2004 erschienen). Seit ihrer Wiener Zeit hat sich die Dichtung Lipskas deutlich geändert – auf längere Texte mit existentieller und kulturologischer Thematik folgten kürzere, ironische und deutlich zivilisationskritische Texte mit einer ausgeprägten, oft grotesken Metaphorik. Politische Anspielungen haben prägnanten Reflexionen über die Befindlichkeit des Menschen in einem hochtechnisierten Zeitalter und einer immer unpersönlicheren Gesellschaft Platz gemacht. Die Überlagerung und Ersetzung menschlicher Aktionen durch wirtschaftlich-technische Mechanismen, die auch mit ihrer lakonischen Kürze oft absurde Effekte erzielt, verweist auf eine immer bedrohlichere Situation des Menschen in einer von Sachzwängen dominierten Wirklichkeit.

Alois Woldan, geboren 1954, studierte Theologie, Slawistik und Komparatistik. Er war Professor für „Ost-Mitteleuropa-Studien“ an der Universität Passau und Professor für Slawische Literaturen an der Universität Wien. Übersetzungen aus dem Polnischen und Ukrainischen.