Lyrik
ca. 150 Seiten, gebunden, Lesebändchen
EUR 18,80 / sfr 32,80
ISBN 978-3-85129-871-0
Das Haus, wenn auch geräumig, war nichts für ihn. Ingram lässt beim Schreiben die Tür offen stehen, wartet bis der Nachhall verklungen, bis die strenge Linie der Sprache verwischt. Dann setzt er sich hin und schreibt von einem alten Deppen wie ihn, der sich nun – so in diesem Gedichtband – einen weiteren Schritt in Richtung ungezügeltes Meer erlauben möchte. Aber es stockt eben alles zurzeit, auch wenn er die Brandung von Ferne schon rollen und rollen hört. Etwas muss die nächsten Sekunden geschehen, denkt er. Was er hier machen kann, gilt nur für dieses Leben. Hilft es ihm weiter?
Nach Spätes Argument (2005) und Luftfarbig Jetzt (2008) ist die vorliegende Gedichtsammlung als das fortgesetzte Krächzen eines Raben zu hören, eines Raben des Nichts. Der sitzt da ob auf dem Dachgiebel in längster Winternacht und fragt sich: Erkenntnis oder nicht? Man begreift: Was er nicht hat, ist alles. Und das Zerbrechen des Totalitären ist nicht einfach. Von Gedicht zu Gedicht Ingrams Aufruf für einen neuen, geschwächt-neuen Anfang.
Jemand schreibt in tiefer Nacht, der / Garten draußen im Krankenstand
/ Jemand heißt Paul und ist schwermütig // Die Kraftprobe zwischen Sprache
und / Welt auch diesmal nicht zu Ende, der / Mensch versinkt in Barbarei der
Worte // Siehst du dich oder nicht, schreibt er / Er stellt fest er ist nicht mehr
jung / Licht könnte sein Schicksal ändern // Er ist der verunstaltete Rabe des
Nichts / Wortlos fliegt er herum und bekommt / Nicht genug von all den Lektionen
// Ach er verlängert nur eine Tradition, am / Lebensabend übt er den
Schwerttanz / Sterne wurden schwarz der Mond bleich //
Ingram Hartinger, geb. 1949 in Saalfelden, lebt seit 1979 in Klagenfurt. Studierte Psychologie, war dreißig Jahre Krankenhauspsychologe am LKH Klagenfurt. Bisher: über fünfzehn Prosabände (bei Droschl, Folio und Wieser), sechs Gedichtsammlungen (u. a. bei Thanhäuser), Radiosendungen für den ORF (Tonspuren, Hörbilder). Zuletzt bei Wieser Das letzte Heft. Österreichisches Staatsstipendium für Literatur und Lyrikpreis der Stadtwerke Klagenfurt 2009.
Rezensionen & Reaktionen
Pressestimmen
»Literatur setzt Du auch da mit dem Leben gleich, in dieses aber, so verzweifelt es sein mag, einen Akt des Vertrauens hinein. Noch und gerade dort, wo Du es wortreich widerrufst, hat Dein Text Vertrauen in die Sprache, in ein Wir und in Seiendes.«
Susanne Schulte
Klaus Ebner
Dem Licht zu
Das ist ein Zitat aus Ingram Hartingers neuem Gedichtband Rabe des Nichts. Das Buch des 1949 in Saal-felden geborenen und heute in Klagenfurt lebenden Autors ist eine Sammlung von Gedichten, die in fünf Abschnitte unterteilt werden. Jeder Abschnittstitel beginnt mit dem Wörtchen »Manchmal«, wodurch beim Leser die passende Grundhaltung, geprägt von Neugier und Abwarten, erzeugt wird.
»Du stehst am Meeresufer und sachte schwappen/Wellen über deine nackten Füße/Wieder bist du noch einmal davongekommen/Davongekommen und der Wind bläst dir/erfrischend seine Musik ins Gesicht«. Ge-fühlvoll. Nachdenklich. Melancholisch. »Der Garten Eden versperrt, Zerberus/Kläfft zur Irritation des Sub-jekts/Was ist da passiert, Pawlows Antwort/Klar und deutlich zur Therapie und/Zerstörung«. Mythisch. Analy-tisch. Intellektuell. Das sind bloß zwei Facetten dieses Gedichtbandes.
Manchmal schreibt Hartinger in Versen, angelehnt an klassische Gedichtformen: »Es kann sein dass ich den gezähmten Adler/Fliegen lasse weit weg für immer und fort/(…)«, und manchmal erzählt er Geschichten und konfrontiert den Leser mit Prosagedichten: »Zwei alte Ohnmächtige tanzen, nein, sie machen sich was vor. Auf dem Glasdach liegen getrocknete Organismen. Dort unten die Stadt im Abstand. (…)« Diese Prosage-dichte, in denen Erinnerungen, Reflexionen über Gelesenes und Erfahrenes anklingen und die bisweilen wie Tagebuchauszüge wirken, sind normalerweise im Flattersatz gedruckt. Im Blocksatz erscheint jedoch Biblio-thek der Aschen, geradezu unbarmherzig in die rechteckige Form gepresst, sodass manche Wörter über den Zeilensprung ohne Trennzeichen zerstückelt werden: »(…) die zusammenbrachen und keine neue ent/stehen ließen und dies klagten die Menschen/dass sie sich einem Gegenüber mit entgegen/gesetztem Konzept aus-geliefert fühlten hoff/nungslos (…)«
Wie hier typografisch manifestiert, zeigt der Autor generell eine Neigung zum Enjambement, nämlich auch über die Strophen hinweg. So heißt es etwa: »Du hast wie andere auch versucht jener//Unerbittlichkeit des herrschenden Todes dich/querstellend zu trotzen/Hättest du das nicht tun sollen und was für ein//Wunsch der dich so hinters Licht führt und/du genaseweist zurückgelassen wirst«. Sprünge, die sich auch in seman-tischer Hinsicht wiederfinden und dem Leser eine besondere Aufmerksamkeit oktroyieren. Denn auf diese Weise geraten die Texte niemals zur Routine, weil stets neue Wendungen erfolgen und auf der nächsten Seite möglicherweise ein völlig anderer Gedichttypus auftaucht.
Die Prosagedichte kümmern sich naturgemäß um keine Strophen, Verse oder damit verbundene Zeilen-sprünge. Da gibt es lyrische Szenen: »Der Boden festgefroren, die Blätter des Herbstes verstreut am Weg-rand, so stapften sie zur Arbeit. (…) Wir schlurften, während das Spital noch im Schlaf atmete, exquisit einer Oberfläche entgegen, einem Horizont aus ununterbrochener Unruhe und Morgendämmerung. (…) Die Kälte hielt es nicht auf.« Beunruhigendes: »Und das Meer wird keinen Spiegel haben und kein Boot von Men-schenhändlern weit und breit. Keine Spur. Hier ist nur Schwarz, hier ist nur Weiß. Nur ein dreckiges Laken wird an den Strand schwappen.« Und scheinbar Widersprüchliches übt Kritik an den Menschen und an sich selbst: »Aber von unseren Lippen kommt mehr und mehr der Verrat. Woran wir uns festhalten, das hält uns nicht. Auch daran halten wir fest. Und es trifft immer die anderen. Hin zu den alten Partisanen sehnt sich der Idiot. Damals wie heute.« Diese Zeilen verraten auch, dass manchmal ein Wort das andere ergibt.
Hartingers Gedichte verbinden die mitunter sehr ernste Realität mit einem poetischen Moment, einem Ein-halten in Gedanken, bereit, die Worte sich verselbständigen zu lassen. »Der Mann im Rollstuhl/er konnte nur mehr sein Kinn bewegen/mit dem schob er den blauen Ball nach vorne/sodass der Motor anhob ihn zu rol-len/(…)« beschreibt im Grunde Ernstes, doch das Gedicht erzeugt ein besinnliches Innehalten. »Die Stimmen klangen klirrend«, heißt es stabreimend an einer Stelle, und doch klingen die Stimmen in sehr vielfältiger Weise im Kopf des Betrachters. Mag der Rabe durchaus sein Nichts krächzen: es ist ein buntes, reiches, lyrisches Nichts!
Ungekürzte Fassung: etcetera 40/ Viertel, Mai 2010
GEGENWARTSLITERATUR 1816
Rabe des Nichts
Es gibt Gedichte, die sperren sich in sich selbst ein, sobald sie einen Leser sehen, und es gibt solche, die springen beinahe den Leser an und machen ihn neugierig mit semantisch rätselhaften Umarmungen.
Ingram Hartingers Gedichte machen auf Anhieb neugierig, man hält es nicht aus, nicht zu wissen, was hinter den rätselhaften Kapiteln steckt, die da heißen:
Manchmal berühr ich die Helle dessen
Manchmal fehlt es an allem
Manchmal verfolge ich das Wort auf keiner Nervenbahn
Manchmal im Blut des Vogels
Manchmal ein Sehnen auf abgenützter Lymphpiste
Diese Kapitelüberschriften deuten schon an, dass es in den Gedichte um eher rare Situationen geht, die nur dünn gesät auftreten und an die man sich nicht gewöhnen kann. Zudem führen die Gedichte immer in seltene Gefilde, die für das lyrische Ich oft bodenlos fremd sind.
Am ehesten ist noch das Areal einer Klinik so etwas wie überschaubarer Boden, scharf abgegrenzt von der Umgebung und auch in den Ritualen ein eigenes Reich. So heißt es in einem „Brief aus der Klinik“ einmal, Klagenfurt ist nicht zu fassen. (12) Dabei bleibt offen, ob Klagenfurt an sich eine so unfassbare, schlüpfrige Stadt ist, oder ob es nur mit dem Standpunkt des Beobachters zusammenhängt, der quasi exterritorial von der Klinik aus auf die Eindrücke reagiert.
Überhaupt wechselt das auftretende Personal ständig seine Identität, einmal treten zwei Individuen als Pawlows Hunde auf und beeindrucken einander mit sicherem Instinkt.
Aber auch Träume von einer Verbesserung der Zukunftsaussichten verpuffen leicht und münden gar in dem politischen Seufzer der Vergeblichkeit: „Kein Umsturz in Sicht“ (21).
So bleibt dem lyrischen Ich vielleicht nur noch ein Abstecher in ein schönes Zimmer, wenn auch nur für kurze Zeit. „Ich lösche nicht ‚Im schönen Zimmer‘ / Ich lass den Titel für eine Weile stehen / Ich gehe auf und ab und rieche tiefsten Flieder […] Und dann geh wieder fort ich verlass meine Haut“ (58).
Unter die Gedichte in vollster Poesie, knapp an die Hautgrenze der verletzten Seele geklemmt, stehen oft Notizen wie aus einem Tagebuchausriss oder einer zufällig übriggebliebenen Notation. Da ist dann für einen Wimpernschlag das „pissige Klagenfurt“ zu entdecken, das sich wie ein Schmutzrand an die Politur des Blickes geheftet hat.
Ingram Hartinger führt in magische Gegenden, worin das Ich oft mit sich allein ist und als letzten Ausweg vielleicht um Hilfe ruft oder vielleicht nach jemandem Ausschau hält, der sich um diese Gedanken kümmert. In dieser abgeklemmten Umarmung schlummert noch etwas wie Liebe, vielleicht ist es auch nur die Sehnsucht danach. „Ich denke an dich / und das ist kein Gedanke“ (167)
„Rabe des Nichts“ ist eine aufregende Suche nach sich selbst, nach uns, nach dem Flügelschlag, mit dem wir abheben können in etwas Unbekanntes. Ingram Hartingers Gedichte kümmern sich um verlorene Seelen, die sonst niemand sucht.
Ingram Hartinger: Rabe des Nichts. Gedichte.
Klagenfurt: Wieser 2010. 177 Seiten. EUR 18,80. ISBN 978-3-85129-871-0.
Ingram Hartinger, geb. 1949 in Saalfelden, lebt seit 1979 in Klagenfurt.
Helmuth Schönauer 22/03/10
Helmuth Schönauer, Universitäts- und Landesbibliothek Innsbruck, Öffentliches Bücherei- und Bibliothekswesen
Literaturhaus: http://www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/Hartinger_Rabe/