Herausgegeben und aus dem Französischen übertragen von Rolf Wintermeyer
524 Seiten, gebunden, Lesebändchen
EUR 29,80 / sfr 48,80
ISBN 978-3-85129-792-8
Auf dem bekannten Kaiserbild im Stiegenhaus des Naturhistorischen Museums Wien sitzt Kaiser Franz I. Stefan an einem Tisch, auf dem Gegenstände aus seinen Sammlungen wie Ammoniten, Bergkristalle und Smaragde liegen und um den herum seine vier liebsten Gelehrten, die Direktoren dieser Sammlungen stehen. Einer davon ist Valentin Duval, eigentlich Valentin Jamerey. Den Namen Duval gab er sich selbst nach seiner Flucht aus dem Elternhaus im Jahre 1709. Duval, geboren 1795 in Frankreich in den allerärmsten Verhältnissen, Hirt von Lämmern,
Hammeln und Truthähnen, Müllersknecht, Autodidakt, landwirtschaftliche Hilfskraft in einer Einsiedelei in Lothringen und schließlich Gelehrter, Historiker und Numismatiker, band sein Schicksal seit 1717 an das der Herzöge von Lothringen, zumal an das des späteren Kaisers und Gemahls von Maria Theresia: Franz I. Die letzten dreißig Jahre seines Lebens verbrachte er in der Wiener Hofburg als Direktor des kaiserlichen Münzkabinetts. Das ganze Paradox dieses Mannes ist, dass es ihm trotzdem gelang, kein Höfling zu sein. Jeder kannte zur damaligen Zeit diese ausgefallene Gestalt, die mit ihren demonstrativ ländlichen Sitten und rustikalen Manieren als der »wilde Mann am Wiener Hof« galt. Er schrieb Memoiren, die ihn als einen Autor ausweisen, bei dem als unumstößlich geltende Wahrheiten des Ancien Régime am frühesten und umfassendsten ausgehebelt wurden. Duvals Einsichten konnten – obwohl die Kritik konkret das Frankreich Ludwigs XIV. trifft – zu seiner Zeit nicht publiziert werden. Erst im 20. Jahrhundert in zwei französischen Ausgaben vollständig erschienen, sind seine Memoiren, jenes »unbekannte Meisterwerk«, wie Emmanuel Le Roy Ladurie in Le Monde schrieb, einer der verblüffendsten Texte der Frühaufklärung. Eine große Ausnahme auch darin, dass sie aus erster Hand präzise Beobachtungen über das bäuerliche Landleben zur Zeit des Sonnenkönigs enthalten, die alles andere als Idyllen und Pastoralen sind. Wie konnte ein solcher Mann am Wiener Hof nicht nur geduldet werden, sondern sogar die Anhänglichkeit und Fürsorge sowohl des Kaisers als auch Maria Theresias auf sich ziehen, die mit ihrem importierten Sonderling am Arm 1752 sogar auf einem Maskenball erschien?
Rolf Wintermeyer, geb. 1948 in Wiesbaden. Studium der Germanistik, der Philosophie und der Kunstgeschichte an den Universitäten von Köln, Paris IV und Konstanz. Ab 1974 Übersetzer für die Verlage Campus, Hanser, Herder, Qumran, Suhrkamp und Syndikat (Michel Leiris, Jules Michelet, Marie NDiaye, Victor Segalen u. a.). Lektor für deutsche Sprache an den Universitäten von Reims und Paris VII. 1991 Promotion an der Pariser Sorbonne über Die Eigene Lebensbeschreibung von Adam Bernd (1676–1748) und die Anfänge der Autobiographie in Deutschland. Von 1992 bis 2004 Dozent an der Universität Valenciennes. 2003: Habilitation, ebenfalls an der Sorbonne, über Lichtenberg, Wittgenstein und die Frage des Subjekts. Seit 2004 Professor an der Universität Rouen. Seit Herbst 2008 Professor an der Universität Paris III (Sorbonne Nouvelle). Veröffentlichungen (meist auf Französisch) über Adam Bernd und die Anfänge der Autobiographie, Karl Philipp Moritz, die pietistische Autobiographie, Jamerey-Duval, Lichtenberg, Grabbe, Canetti, Michelet, »Jung Wien«, die »neuen Literaturtheorien«, Michel Leiris, Freud und Wittgenstein.