Böhmische Bibel
Bände:
- Band 1: Fiona
- Band 2: Libuse
- Band 3: Herminatorca. 120 Seiten, gebunden, Vor- und Nachsatz,
Lesebändchen, Prägedruck
EUR 14,95 / sfr 21,00
Zum Buch:
Die Böhmische Bibel verquickt Mythos und Müll zu Puppen, in denen Menschen stecken. Ein Arzt, der Traumfrauen verwirklicht und Kinderwünsche erregt. Ein japanischer Zauberer mit Rucksack statt Hut. Politische Erlöser und Menschenrechtsverteidiger, die sich nicht mögen. Eine Gottestochter. Prag. Schwelle. Stromschnelle. Im Ton schwingt die unheilige Schrift, zwischen Gospel, Jazz und Soul – Breton, der Alte, ist auch dabei und Kafkas fliegender Erzähler. Unsägliches wird sagbar. Crossover und Ordnung, ein paar Meter über dem Boden. Künstliche Menschen explodieren, Fremde vermehren sich, Figurinen mit Präsidentenhirnen dürfen ihren Platz einnehmen und sich geschlechtsverwandeln. Der Schrei nach Hilfe und Halt. Sind wir etwa auf einem psychotischen Trip à la Hieronymus Bosch? Theologisch hintergründig wird die Vaterrolle im globalen Mix von Religion, Politik und Medienikonografie ausgespielt. Wobei klar ist, ohne Vater geht gar nichts, aber wer ist es durch wen? Die Erbsünde ist eine Aufzählerei – wo gezählt wird, wird auch bezahlt, und zwar mit dem Leben. Die Böhmische Bibel legt Zeugnis ab von einer Utopie des Verstehens, ohne sie wäre das ganze Leben nur halb so wild.
Lydia Mischkulnig,1963 in Klagenfurt geboren, lebt in Wien. Studium „Bühnenbild“ an der Univesität für Musik und darstellende Kunst Graz (1986), Studium „Filmproduktion“ an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (1991). Mehrere Preise und Stipendien, u.a. Bertelsmann-Literaturpreis beim Ingeborg-Bachmann-Preis 1996, Österreichische Staatsstipendien für Literatur und Dramatik 2007.
Sabine Scholl, lebt nach Aveiro, New York, Chicago heute als freie Autorin in Berlin, hält Vorlesungen an Universitäten, zuletzt Nagoya/Japan. Sie gebar zwei Kinder, schrieb elf Bücher: Zuletzt „Sprachlos in Japan“ 2006.
Gemeinsam gründen sie 2007 die literarische Bewegung Tinternational Textunternehmen in Tokio.
Zur Methodik von Textunternehmen Tinternational
Die Autorinnen Lydia Mischkulnig und Sabine Scholl erarbeiten Satz für Satz gemeinsam. Unbedingtes Einlassen auf die Sprache des anderen ist unser Credo, unsere Kunst ist Verstehen und daraus Geschichte zu entwickeln und Geschichten. Die Utopie liegt darin, den sprachlos Gewordenen ein Haus Böhmen zu geben, Literatur als wechselnder Ort, als neue Heimat.
Wir, die Autorinnen, komponieren im Wechselgesang. Wir, Orpheus und Eurydike in einem zu zweit, springen über unsere Schatten.
Wir eröffnen Ideen, indem wir Geschichten STÜCKELN – nicht ZERstückeln. Geschrieben werden darf alles, was in den Sinn kommt – beglaubigte und unglaubliche Sätze. Sprache ist das Werkzeug, um einander zu hören, zu verstehen, sich in eine Geschichte zu schwingen.
Das Internet ermöglicht diese Form des Schreibens zwischen beliebigen geografischen Aufenthaltsorten. Jeder Satz ist eine Passage – ein Übergang. Passage für Passage schicken wir einander in elektronischer Post zu.
Die Anknüpfungspunkte unterliegen einer Abmachung: Mitten im Satz aufhören und zur Vollendung an die Mitschreibende schicken, zum Weiterspinnen.
Grenze und Entfremdung bilden Parameter des Subjekts der westlichen Geistesgeschichte. Wir prüfen und verändern dieses Muster. Das Schreiben zu zweit im Netz durchlöchert den Anspruch auf alleinige Erzeugerschaft. Statt eines einzigen allmächtigen Schöpfers gibt es somit zwei Schöpferinnen.
Außerdem gilt:
Wer das erste Wort hat, entscheidet die Münze.
Wer das letzte Wort hat, ist eine Frage des Zufalls.
Wir tinternationalisieren uns. Das Internet wird Tinternet in diesem Tun.
Gehet hin in Frieden und leset – amen.
Lesung im Literaturhaus Salzburg, 24. April 2009
Rezensionen & Reaktionen
Pressestimmen
http://www.youtube.com/watch?v=ke3N_Q8Mg2M
Die Leserstimme einer berühmten Sängerin
Wann habe ich je so etwas total Schräges, Verrücktes und Geniales gelesen? Sie können sich kaum erklären, was das ist, aber all die Typen kommen vor, die man schon immer sein wollte oder nie. Helden und Märchenfiguren, Models und Supermen, die nicht vom Pferd stürzen, sondern komplett explodieren. Gutes Zeug, und es funktioniert irgendwie, zum Schluss gibts jedenfalls ein Baby, so ein weiblicher Jesus, der alle versöhnt und irgendwie total süß ist und Libuse heißt. Wer war das eigentlich? Hat das was zu bedeuten? Jedenfalls heißt das erste Ding Böhmische Bibel – unheilige Schrift für Puppen. Sexy!
Marilyn Monroe
Böhmische Bibel
Unheilige Schrift für Puppen
Jeder Satz wird zur Passage. Und die Sprache zur Einladung, sich auf den Weg zu machen und leichten Fußes durch eine Geschichte zu flanieren, um dort seine eigenen Spuren zu orten und gleichzeitig zwei Autorinnen und deren literarischen Reiserouten zu begegnen. So jedenfalls fordern es Sabine Scholl und Lydia Mischkulnig, die sich anlässlich einer Tour durch Japan zum „Tinternationalen Textunternehmen“ mit Sitz in Wien und Berlin zusammengeschlossen haben. Gemeinsam wollen sie ihrer beider Stimmen in einer Manufaktur bündeln, um die literarische Welt fortan auch als Duo zu beglücken.
Gebrauchtstexte aller Art könnten solcherart entstehen, haben sie in ihrem Gründungsmanifest beschlossen, Stücke für Kopf, Auge und Ohr, für alle Sinne. Denn Glück soll Lust machen, Lust Eros und Eros Kinder.
Und so sind auch die zwei ersten Bücher, die nun als Koproduktion auf die Welt kommen, im Kontext der Schöpfungs- und Heilsgeschichten zu sehen. „Böhmische Bibel“ nennen Scholl und Mischkulnig ihr auf fünf Bände angelegtes Projekt, das sich im Untertitel als „Unheilige Schrift für Puppen“ deklariert. Und da die beiden Damen Sinn für Witz und Ironie haben, setzen sie in der ersten Folge dieses Fünfteilers bei der Entstehung menschlichen Lebens an.
Kunstfigur Fiona
„Fiona“ heißt der erste Band, und diese Fiona ist dann auch ein Wesen zwischen Puppe und Mensch, geschaffen von einem Fertilisationsexperten. Ihm ist es gelungen, seine Kunstfigur so perfekt auszustatten, dass sie sich mit einem japanischen Marcuse-Schüler paaren und dessen Kind auf die Welt bringen kann. Kierling bei Wien wird zum Geburtsort, genauer gesagt jenes Zimmer, in dem Franz Kafka dereinst gestorben ist. Er, der zeitlebens darunter gelitten hat, nicht wirklich, und wenn dann nur für seine Literatur gelebt zu haben, avanciert zur emotionalen Hebamme. Fiona funktioniert nach Plan, bringt ihre Tochter zur Welt und stirbt.
Libuse wird das Mädchen heißen, so wie die mythische Urmutter der Dynastie der Premysliden, dereinst Herrscher über Böhmen. Doch wer mit einem solchen Namen belastet ist, trägt an einem schweren Erbe: Libuse soll die Welt verändern. Amen.
Václav Havel als Mutter
Der Vorhang fällt, Tusch, Applaus. Kurze Pause, und es geht weiter. Zweiter Band, Titel „Libuse“. Der Vorhang geht wieder auf. Das Personal ist bekannt. Fiona ist tot, der Japaner auf diversen Universitäten unterwegs und Libuse bei ihren Zieheltern untergekommen, bei Václav Havel, der sich vom tschechischen Präsidenten in eine liebevolle Mutter verwandelt hat.Er, der ehemalige Dissident, hat sich mit einem Zwerg zusammengetan, der dem Kapitalismus hörig ist. Zusammen suchen sie Libuse aufzuziehen.
Als auch sie beide tot sind, findet Libuse zu ihrem leiblichen Vater zurück und wird nach Japan ausgeflogen. Dort, im Land der beseelten Pinien, Schlangen und Schnecken, gilt es eine ganze Reihe von Abenteuern und Initiationen zu durchlaufen, um endlich jenes sagenumwobene Kraut zu finden, das die 108 Illusionen vernichten und alles Leiden in einem OOOOM aufheben soll. Doch was ist stärker, die Mission oder die Liebe? Wofür wird sich Libuse entscheiden? Applaus, Vorhang, einmal mehr. Fortsetzung folgt.
Böhmen liegt überall
Drei weitere Teile soll diese „Böhmische Bibel“ bekommen, haben die beiden Autorinnen prophezeit und sich selbstbewusst in dieses Projekt geworfen. Böhmen liegt überall, sogar am Meer, das weiß man längst, es liegt in Wien, Tokyo und Hokkaido, am heiligen Berg Koya-San und im Herzen der Flusswälder entlang der Moldau.
Auf diese Weise wird diese „Unheilige Schrift“ über Fiona und Libuse zu einem Gleichnis über Mann und Frau und zu einer Abrechnung mit Machtverhältnissen, Massenmorden und Herrenmenschentum und mit des Menschen Sehnsucht, die Welt wieder zu einem friedvollen Ort zu machen, mit Vogelzwitschern ohne Ende.
Jeder Satz eine Koproduktion
Scholl und Mischkulnig halten einen Eintopf am Köcheln, aus dem sie eine Vielzahl wunderlicher Zutaten herausfischen und diese fein zerschnetzelt und neu arrangiert servieren. Die Bestandteile dieser Suppe stammen aus den unterschiedlichsten Speisekammern und Gewürzschränken und lassen alle möglichen Anspielungen herausschmecken: auf Kafka und seinen Hungerkünstler, auf Adalbert Stifter und dessen verzweifelten Versuche, der Welt doch noch die Idyllen abzuringen, auf die Kluft zwischen West und Ost, auf Arm und Reich dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs, auf Ödipus, Ahnenkult und den Kreis ewigen Lebens. Dazu kommen Mythen verschiedenster Provenienz, ironisch gebrochen und in unsere Zeit übersiedelt.
Jeder Satz sei eine Koproduktion, konstatieren die Autorinnen programmatisch, der plötzliche Wechsel der Stimme, die Absage an das Postulat der alleinigen Urheberschaft mache die Grenzen des Ichs durchlässig. Der Datenhighway schafft neue Freiheiten des Miteinander-Schreibens, man trifft sich allerorts, ganz gleich, wo die jeweiligen PCs gerade stehen.
Erfrischend abwechslungsreich
Was das „Tinternationale Textunternehmen“ auf diese Weise auf den Markt wirft, ist dann auch ein erfrischend abwechslungsreiches Gebilde. Die beiden Bände der „Böhmischen Bibel“ liegen wie Breviere leicht in der Hand und lassen Erwartungen schnell auffliegen. Sie spielen mit den Elementen von Märchen, Fantasy-Roman und mittelalterlichem Stationendrama, sie scheuen sich nicht vor Karikatur und Kolportage, vor sprachlichen Unschärfen und dem Dickicht der Klischees. Alles scheint möglich.
Und dieses Alles hält die Leser dann auch eine Weile ganz gut bei Laune. Doch ob man den Toll- und Torheiten von Libuse und weiterer noch auftauchender Figuren tatsächlich drei weitere Bücher lang ähnlich gespannt und amüsiert folgen mag? Aber wer weiß? Wer weiß, was die Autorinnen bei ihrer skurrilen Tour durch die Möglichkeiten der Literatur noch in ihren Rucksäcken versteckt halten, in diesen Zaubertüten. In denen kann ja bekanntlich alles stecken, Juwelen ebenso wie Tand.
Text: Susanne Schaber
http://oe1.orf.at/highlights/137629.html[9.5.2009]