58 Seiten, ultramarin 001
EUR 14,95

Was ist der Mensch? Ein Schatten, einer Stimme Klang. Was bleibt? Ein Wort, wenn es geschrieben steht. Und weiter? Das Lesen des Wortes, aus dem das Bild entsteht. Was für ein Bild? Ein Bild aus Worten einer anderen Zeit. Wie anders? Der Blick auf die Geschichte bleibt für immer neu, so lange es Menschen gibt. So neu, wie das Betrachten eines Kunstwerks, das Lesen einer Schrift.

Die hier vorliegende Rezension in Essayform über eine Neuübersetzung des Dialogs BRUTUS* von Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) sei eine Anregung für Leser, die sich an frühere Lektüren von Werken Ciceros erinnern, und für Leser, die zum ersten Mal etwas über Cicero und seine Zeit erfahren wollen. Eine Schule des Schreibens und Lesens ist der Dialog BRUTUS, ein Spätwerk des Autors, geschrieben 46 v. Chr. Das ist zwei Jahre vor den Iden des März des Jahres 44 v. Chr. – Ermordung Caesars –, drei Jahre vor Ciceros eigenem gewaltsamen Tod (43 v. Chr.), vier Jahre vor des Marcus Iunius Brutus Tod von eigener Hand (42 v. Chr.). Ne scitis – neque diem neque horam. „Ihr wißt nicht den Tag noch die Stunde“. Nein, wir wissen es nicht.

Der berühmte Redner Cicero, hoher Beamter im Ruhestand, Ankläger der Verschwörung des Catilina, als Gegner C. Iulius Caesars von diesem wiederholt respektvoll und mit Milde behandelt, stellt die Geschichte der römischen Redekunst von den Anfängen bis zur Gegenwart des Jahres 47–46 v. Chr. als Dialog unter Freunden dar. Das Werk gilt als Quelle zur antiken Rhetorik. Für den Herausgeber und Verfasser einer neuen Übersetzung des Dialogs BRUTUS, Heinz Gunermann, stellt sich die Frage, ob Cicero mit dieser Schrift auch politische Absichten verfolgte. Diese Absichten sind im Text verborgen, werden aber mittels Kommentar und Nachwort dieser zweisprachigen Ausgabe deutlich.

Die klare Sprache der deutschen Übersetzung, die, dem lateinischen Satzbau folgend, die Zeit aufhebt, die uns von dem Gespräch Ciceros mit seinen Besuchern trennt, verdient es, ans Licht gehoben zu werden.

Ein Vergleich von Inhalt und Form dieses Dialogs mit Freunden – Titus Pomponius Atticus (110–32 v. Chr.) in Begleitung des talentierten Mannes aus berüchtigtem Haus, Marcus Iunius Brutus (85–42 v. Chr.) – mit unserer Zeit bleibt im Ungesagten und zwischen den Zeilen von genannten und ungenannten Rednern unserer Tage zu lesen.

*) M[arcus]. Tullius Cicero: Brutus. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Heinz Gunermann. Stuttgart: Philipp Reclam. jun. 2012 (RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK 18825).

Marie-Thérèse Kerschbaumer, 1936 nahe Paris geboren; Studium der romanischen und deutschen Philologie in Wien (Dr. phil. 1973); seit 1971 freie Schriftstellerin und Übersetzerin; lebt in Wien. Werke (Auswahl): Der Schwimmer (1976), Der weibliche Name des Widerstands. Sieben Berichte (1980), Schwestern (1982), Für mich hat Lesen etwas mit Fließen zu tun (1987), Versuchung (1990), Bilder immermehr (1997), Die Fremde (1992) / Ausfahrt (1994) / Fern (2000); Neun Canti auf die irdische Liebe (1989), Orfeo. Bilder Träume (2003), Neun Elegien/Nueve elegías (2004), Wasser und Wind (2006); Calypso. Über Welt, Kunst, Literatur (2005); Gespräche in Tuskulum Ein Fragment. Viertes Buch (2009); 13-bändige Werksausgabe mit einem Essay von Hans Höller (2007); zuletzt erschienen: Freunde des Orpheus (2011)

Rezensionen & Reaktionen

Pressestimmen

Ab und zu tauchen sie jäh auf, diese Bücher, die aus der Zeit gefallen sind. Sie lösen ungeheure Überraschung aus in einer genormten Bücherwelt und zeigen, wie sich der sogenannte Zeitgeist letztlich in einer riesigen Gedankan-Flaute selbst still legt. Marie-Thérèse Kerschbaumer eröffnet mit ihrer „Res publica“ gar eine eigene Reihe, die Ultramarin-Reihe im Wieser Verlag. Als Vorspann erklärt sie, wie es zu diesem edlen Namen gekommen ist. Zuerst will man zu den Wortfeldern Warnruf, Weitblick oder Besichtigung etwas zeitlos Lateinisches, doch dann schlägt die Komponente von zwei Farben, die etwas Neues ergeben, sofort in die richtige semantische Kerbe: Ultramarin ist eine zeitlose Farbe und zu manchen Zeiten wertvoller als Gold. Als Eröffnung der Reihe nimmt sich Marie-Thérèse Kerschbaumer etwas schier Ausgestorbenes vor. Sie rezensiert Heinz Gunermanns Neuübersetzung von Ciceros „Brutus“ aus dem Jahre 2012 (Reclam UB 18825). Das Buch interessiert sie als Philologin, weil darin die aussterbende Redekunst analysiert und für die jeweilige Gegenwart aktualisiert wird, und als politische Schriftstellerin, die um die Verknüpfung von Wort und Tat weiß. So eine zweisprachige Ausgabe (lateinisch/deutsch) müsste man unbedingt mit Gerhard Kofler besprechen, gedenkt die Autorin des 2005 verstorbenen Südtiroler Autors und nennt ihn einen Römer, der gebildet durch die Zeitläufe geht. Die Autorin beruft sich noch auf zwei verstorbene Autorinnen der Grazer Autorenversammlung, die sie politisch bei der Lektüre von Cicero begleiten, auf Heidi Pataki, die ihr Schreiben als politische Antwort verstanden hat, und Elfriede Gerstl mit ihrem leuchtenden Diktum: „Alles, was sich sagen lässt, lässt sich auch einfach sagen“. Dieses fiktive Gespräch mit gerade verstorbenen Autorinnen korrespondiert mit den Teilnehmern an einem fiktiven Gespräch, das Cicero mit Brutus und Konsorten gehalten hat. Dabei vermengen sich Gedankengänge zur Gegenwart mit jenen zur Originalzeit etwa 44 v. Z. Letztlich stellt sich heraus, dass die Schlüsselwörter des politischen Handelns und Redens über Jahrtausende gleich geblieben sind. Rettung, Zukunft, Vernunft etwa, wiewohl sie in den gegenwärtigen Reden kaum in dieser Fügung vorkommen. Um das Brutus Gerüst herum (Prooemium / Gespräch über Geschichte und Theorie der griechischen Beredsamkeit / Gespräch über die römische Beredsamkeit / Finale) lässt die Rezensentin ihren Gedanken freien Lauf, die sie oft als Exkurse, Abschweifungen und Seiten-Notizen ablegt. Diese Einträge beziehen sich auf Cicero und seinen Übersetzer Gunermann gleichermaßen. Im Anhang kommen die aktuellen Politiker Blair, Clinton, Sarkosy und Napolitano auf den rhetorische Seziertisch und werden nach der Cicero-Methode analysiert. Rezension und Neuübersetzung des Brutus gehen schließlich so ineinander über, dass daraus in ultramariner Weise ein neues „öffentliches“ Kunstwerk entsteht.

Helmuth Schönauer 31/07/14